Wissen, Kampfmittel gegen Gewalt?

Es ist wieder mal so weit. Der futuristisch anmutende ICE von Zürich nach Lausanne bleibt unter dem Metallgewölbe des Oltner Bahnhofs stehen. Da sitzen sie nun, die lärmenden Schulklassen, das Rentnerehepaar, der amerikanische Tourist und die gegenüber sitzenden jungen Damen. Die eine strickend, die andere in die Elektronik des Handys und der Kopfhörer abtauchend. Zehn Minuten … eine halbe Stunde, und das alles ohne plärrende Orientierung durch die Lautsprecher. Die Luft wird stickig, die Stimmung gereizt. Kopfschütteln, Fingertrommeln, Aufstehen und Hinsetzen kündigen aufkommende Aggressionen an. Unsicherheit entsteht durch Unwissenheit. Warum geht es nicht weiter? Was ist passiert? In diesem Moment versagt unsere Informationsgesellschaft einmal mehr. Wie viele Passagiere hätten ihr Königreich für eine Erklärung zur rechten Zeit gegeben … Können Wissen, Information oder Aufklärung aufsteigende Aggressivität dämpfen? Führt vernetztes Verstehen zu Geduld und Nachsicht? Die Meinungen gehen auseinander.  Simone de Beauvoir sagte mal: «Die Unwissenheit ist eine Situation, die den Menschen so hermetisch abschließt wie ein Gefängnis.» Die festsitzenden Zugreisenden hätten bei diesen Worten kräftig applaudiert.

Wissen ist nicht Wissen

In diesem anscheinend grundlos stehenden Zug sitzen Menschen, die vielleicht einen PC zusammensetzen, ein langes Gedicht aufsagen oder chemische Formeln erklären könnten. Doch trotz all dem hier versammelten Konzentrat an Wissen und Fähigkeiten kommt der Zug nicht ins Rollen, und das Klima wird auch nicht besser – in jeder Hinsicht. So vielfältig unsere pluralistische Gesellschaft sich präsentiert, so einfältig kann spezifisches Wissen oder fachkompetente Kenntnis in gewissen Situationen des Lebens sein. Ein Fakt, der im Alltag wie in großen Weltanschauungsfragen ersichtlich wird. Thomas Avenarius bestätigt in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung die oft erwähnten Verdachtsmomente, dass junge Menschen in gewissen Koranschulen eher eine «Gehirnwäsche denn eine theologische Bildung» erführen. Dass diese Problematik aber nicht als islamisches Phänomen betrachtet werden darf, sondern alle Ideologien und Religionen betrifft, bestätigt Dr. Arthur Schärli, Präsident der Allgemeinen Berufsschule Zürich: «Wenn man daran denkt, was in früheren Jahrhunderten im Namen des Christentums oder auch heute noch in Nordirland – geschehen ist, dann nützt hier auch ‹vertiefte Kenntnis› nicht besonders viel.»

Der Buchautor und Professor für Geschichte und Germanistik Bernhard von Arx (1924 – 2012) aus Zürich plädierte für die Breite der Bildung: «An höheren technischen Lehranstalten kann oft nur noch von Ausbildung statt Bildung gesprochen werden. Dies als Folge des heutigen Trends, unter dem Druck der Wirtschaft genügend Fachkräfte (und eben nicht gebildete Menschen) heranzuzüchten. Das kommt davon, dass seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert der Glaube an die unbeschränkte Machbarkeit dank Forschung immer mehr gewachsen ist. Dazu tritt die immer stärkere Spezialisierung, sodass sich etwa zwei Physiker mit derselben Grundausbildung nicht mehr ohne weiteres verstehen.»

Michael Forcher, Historiker und ehemaliger Verleger in Innsbruck, formuliert den Gedanken, wie eventuell eine «bessere Gesellschaft» als Reaktion darauf installieren könnte, «dass man die Schwächeren weniger unterdrückt, wenn man Geige spielt statt Börsenkursen nachhechelt, wenn Harmoniebedürfnis gegenüber Konkurrenzkampf aufholt».

Wissen ist Macht, Unwissen macht ohnmächtig

Auf die Weltgeschichte zurückblickend, muss die Tatsache registriert werden, wie Wissen bewusst als Manipulierinstrumentarium angewandt wurde. Bei Lichte betrachtet, dürfte man jedoch auch zur Überlegung gelangen, dass Unwissenheit dienlich für die Beeinflussung war. Gerne wird auf die Nazi-Zeit verwiesen, da ja die dominierenden Schergen nicht dumm oder ungebildet gewesen seien. Nun, waren sie wirklich gebildet? Kann man von Bildung reden, wenn mit großer Wortgewaltigkeit um sich geschlagen und eine gut durchdachte Rhetorik eingesetzt wird? Es ist keine historische Neuentdeckung, wenn beschrieben wird, wie Massen durch inszenierte Dramaturgie in alle gewünschten Richtungen bewegt worden sind. Wie verhielten sich die gebildeten Menschen, oder anders formuliert, die Menschen, die im Bilde waren? Wie viele machten sich ein kritisches Bild? Eine Frage, die nicht befriedigend zu beantworten ist. Allerdings werden in totalitären Systemen diejenigen verfolgt, die hinterfragen, die mehr wissen wollen oder zu zweifeln wagen. Wissen kann Macht generieren oder die Macht entmächtigen. Die Reformation wurde unter anderem durch die in Volkssprachen übersetzten Bibeln möglich. Das Volk begann zu lesen und zu wissen. Es begann Eigenverantwortung wahrzunehmen. Das eigene Schicksal konnte in die eigenen Händen genommen werden. Aus war es mit dem Fatalismus oder dem blinden Vertrauen gegenüber Zeitgenossen, die sich als Seelen- und Wissensverantwortliche sahen. Die daraus wiederum entstandene neue Gewalt durch Kriege, Aufstände und Revolten manifestierte erneut die Begrenztheit des Weiterdenkens. Trotzdem kann Gewalt durch Verständnis verhindert werden. Dieses Verständnis basiert auf Verstehen und Verstehen wiederum auf Wissen.

Bescheid zu wissen, ist beruhigend. Ein Aufatmen der Erleichterung geht durch die ICE-Sitzreihen, als der Schaffner mit lockerer Krawatte und gewinnendem Lächeln dann doch noch mit Red und Antwort für das zögerliche Fahrverhalten erscheint. Als die Fahrgäste zu verstehen geben, wie ärgerlich die Dreiviertelstunde mit stummen Lautsprechern war, sagt der verblüffte Mann: «Das habe ich gar nicht gewusst.»

Hoffen wir für 2016 auf fahrende Züge und auf Frieden, gestützt aufs Wissen und Verstehen.

 

Das Cover stammt von diesem Buch: „Eine Geschichte des Lesens“ von Alberto Manguel, ISBN/EAN: 9783596175154, 480 S.

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Ohne Yutube keine Musik?

Urs Heinz Aerni: Sie sind Musiker, treten auf und sind kommunikativ unterwegs. Was treibt Sie im Alltag um?

Matthias Müller: Wir sind Zeugen einer 3. industriellen Revolution und merken es selber kaum.

Aerni: Wie meinen Sie das?

Müller: Ich merke, wie ich schleichend meine Angewohnheiten anpasse und Dinge selbstverständlich werden, die ich noch vor Kurzem als Spielerei abtat. Wie kann eine Gratis-Suchmaschine wie Google zu einem der größten Weltunternehmen werden, wie kann eine einfache Software wie Facebook Milliarden generieren und wie kann eine Filmdatenbank die Musikwelt umkrempeln? Letzteres nicht nur bei der Internetophilen Jugend, nein: Insbesondere die etwas angegraute sogenannte Klassik wird in ihren Grundfesten erschüttert.

Aerni: So arg?

Müller: Will ich ein Stück Musik kennenlernen, gehen alle heute auf Youtube, will ich eine Musikerin oder einen Musiker kennen lernen gibt es nur eines: Youtube. Will ich als Musiker einen überlebensnotwendige Bekanntheit erlangen, dann komme ich nicht mehr um Youtube herum. Wir leben im Zeitalter der Youtubisierung!

Aerni: Sind da Unteröne eines Kulturpessimisten herauszuhören?

Müller: Das ist weder per se weder gut noch schlecht. Spannend ist der Prozess allemal. Gelten tut auch hier: „les absents ont torts“ (auf Deutsch: „Die Abwesenden haben Unrecht“ – Red.). Wichtig ist, das Gute zu nutzen, die Gefahren zu erkennen und die Nachteile zu minimieren.

Aerni: Mit anderen Worten, Sie machen nun mit…

Müller: Ich springe nun vollends auf den Zug auf und produziere zum ersten mal Youtube-Filme in meinem Atelier damit auch Sie live Zeuge sein können, im Netz der Netze.

Lernen Sie den Musiker Matthias Müller via Links kennen:

Video of Presentation: SABRE Multi Sensor INDIEGOGO Event

background information about: SABRE-research

(pd)  Matthias Müller erhielt eine breitgefächerte Musikausbildung an der Musikakademie in Basel. Seine wichtigsten Lehrer waren Hans Rudolf Stalder und Jürg Wyttenbach. Seit 1996 lebt er in Zürich und ist Professor für Klarinette an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er profilierte sich als vielseitiger Künstler und betätigt sich als Interpret, Komponist, Pädagoge und künstlerischer Leiter verschiedener Institutionen und Projekte.Matthias Mueller ist international als Solist und Kammermusiker tätig. Er spielte als Solist mit wichtigen Orchestern, wie dem Tonhalle Orchester Zürich, Großes Tschaikowsky Symphonie Orchester Moskau, Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi u.a. Er setzt sich intensiv für die Entstehung neuer Musik ein und hat in mehr als 100 Uraufführungen mitgewirkt. Am Institute for Computer Music and Sound Technology an der ZHdK betreut er das Forschungsprojekt einer Sensor Augmented Bass Clarinet, einem Instrument, das auf herkömmliche Weise spielbar ist und gleichzeitig eine Steuerung des Computers erlaubt.

Als Komponist verfolgt er die Entwicklung einer eigenständigen Ästhetik der Zweiten Moderne und strebt immer wieder den transdisziplinären Ansatz an. Neben Werken für Musiktheater und Orchester umfasst sein Schaffen viel Kammermusik und auch elektronische Musik. Er schrieb ein Lehrwerk für Klarinette und komponiert regelmäßig Stücke für Kinder.

Service Public – was ist das?

Die Griechen machen es zu wenig, und den Briten wurde es zu viel. Die einen privatisieren Dienste als Mittel gegen die Verschuldung, die anderen retten heruntergewirtschaftete Infrastrukturen durch Rückverstaatlichung wie Eisenbahnen oder Kanalisationen.
Psychiatrische Kliniken und Spitäler sollen quer durchs Land in rentable Firmen umge- wandelt werden. Welcher Service für die Gesellschaft obliegt der staatlichen Grundversorgung oder dem freien Markt mit Renditemaximierung? Vor Kurzem hörte ich auf der Post, wie ein Kunde fragte, ob man an diesem Kiosk auch einen Brief aufgeben könne.
Der Philosoph Peter Sloterdijk schrieb mal in der Zeit: «Wären Steuern, wie manche sagen, nichts anderes als der natürliche Preis des Glücks, in einem effizienten Staat unter der Herrschaft des Rechts zu leben, so brauchte man über ihre Begründung kein Wort zu verlieren.. »
Welche Dienste am Bürger und an der Bürgerin soll beim Staat bleiben und welche vertrauen wir dem freien Markt an? Wenn Post, Telefon, SRG, Energieversorgung und Bahn immer mehr die Spielregeln des Marktes übernehmen, wieso denn nicht auch die Polizei, der Justizvollzug oder die Landesverteidigung?
Oder die Feuerwehr? Wenn es brennt, rufen wir die 118 an (jetzt noch kostenfrei) und dann heißt irgendeinmal das so: «Möchten Sie das brennende Haus mit Vollbesatzung sofort gelöscht haben, dann geben Sie die Kreditkartennummer ein. Wenn nicht, dann drücken Sie auf die 4 für Aufräumarbeiten zum Weekendtarif.»
Was meinen Sie? Wie sollen wir sie definieren, die Zuordnung der Versorgungsdienste zwischen Behörde und Konzern?

Mahlzeit! Oder wenn Nebenwirkungen eine gute Sache sind.

Ob hier AKW­ oder Solarstrom durchfließt? Das fragt sich der Verfasser dieser Zeilen, während er vor seinem Computer sitzt und diese Worte schreibt. Und wo dieses Gerät herkommt, und womit und unter welchen Umständen das Gerät gebaut wurde, wagt er sich gar nicht zu fragen. Stattdessen greift er zum Weinglas und nippt am Übersee-Tropfen. Nebenwirkungen müssen mit einkalkuliert sein, wenn es um höhere und edle Ziele geht.

Durchfall, Blähungen, Magenbeschwerden, Sodbrennen oder Schmerzen im Oberbauch, Erbrechen, Übelkeit. Keuchende Atmung und Kurzatmigkeit, Schmerzen und Husten. Blut im Urin.

Das ist unter «Nebenwirkungen» zu lesen im Beipackzettel eines Medikamentes gegen Kopfschmerzen. Risiken gehören zum Willen nach Besserung. So ist das Gesetz aller Dinge inklusive Natur – auch Umwelt genannt. Tiergerechte Produktion verteuert nun mal das Biofleisch oder die Bio­Eier.

Perforation des Augapfels, Pupillenerweiterung und Herabhängen des Oberlides. Vordrängen des Augapfels mit Bewegungseinschränkung. Verzögerte Wundheilung.

Das alles muss in Kauf genommen werden, wenn eine bakterielle Augenentzündung bekämpft werden soll, so steht es geschrieben. Das nimmt man eben nicht zum Spaß auf sich. Giftfreie Kartoffeln und Karotten gibt es nun mal nicht gleich um die Ecke im Billigangebot. Auch das Angehustet-Werden, im gedrängten Stehen im Schweißdunst Deines Nächsten in der S-Bahn ist der gerechte Preis beim Verzicht auf das eigene Auto mit Sitzheizung und Lieblingsmusik. Von nichts kommt nichts!

Angstzustände, Schlaflosigkeit, Verwirrtheit, Depression, Schweißausbruch, Realitätsverlust, Persönlichkeitsstörungen, Verlust des Kurzzeitgedächtnisses und Panikattacken.

Das könnte das Rahmenprogramm sein, wenn Sie ein Medikament gegen «Angst- und Spannungszuständen» einzunehmen gedenken. Da muss man durch, oder glauben Sie, dass beim Hobeln keine Späne fallen? Ne, ne; wenn schon denn schon! Oder erwarten Sie, dass wir mit Billigflug nach Wien das Kerosin aus den Tannennadeln oder den Fluglärm wegbringen? Ja, es tut weh, der teure Inter-City-Fahrschein sowie das Freinehmen zweier zusätzlicher Arbeitstage. Man kommt nicht drum herum.

Wassersammlung im Gewebe (Oedeme), Alpträume, vermehrte Schweißproduktion, Haarausfall und Potenzstörungen.

Das alles und mehr blüht Ihnen, wenn Sie medikamentös gegen Bluthochdruck angehen möchten. Apropos blühen: Klar ist der Rasen nicht mehr so teppichmäßig, wenn Sie auf das Giftsprühen verzichten und logisch sind die Tomaten nicht mehr so formvollendet wenn Sie die Insektenvernichtungsbombe im Keller stehen lassen.

Ohnmachtsanfälle, abnormale Ejakulation (z.B. Samenerguss in die Harnblase), langandauernde, schmerzhafte Erektion ohne sexuelle Stimulation.

Solche Überraschungen liefert ein Medikament gegen «gutartige Prostatavergrößerung». Da können wir nichts dagegen tun, Naturgesetz. Das Höhere, das Langfristige, das Wichtige eben zählt. Unser blauer Planet macht uns das schon lange vor. Artensterben, Eisschmelze, Überschwemmungen, Ozonlöcher, übersäuerte Böden, Plastik im Meer und in den Hälsen von Walen, Verlehmung der Wiesenerde, Geschwüre und Verunstaltungen nach Supergaus, verstopfte Kläranlagen durch Zigarettenkippen, geschlechtslose Forellen wegen der Antibabypille, Volksaufstände mit dazugehören- den Massakern und Foltertechniken, ausgefischte Meere, sterbende Ameisen dank Laubbläser, fades Getreide durch Monokultur, Zugsverspätungen durch Suizide nach Karrieredruck mit Burnout etc.

Nebenwirkungen, alles Nebenwirkungen für eine größere Sache! Kollateralschäden für ein hehres Ziel der Erde: die Beseitigung eines Störfaktors. Nur Geduld, bald hat sie es geschafft…

Laut Beipackzettel eines Medikamentes gegen Harninkontinenz bei Tieren, hier noch eine weitere Nebenwirkung: Fehlende Fresslust.
 Kann das vielleicht … auch Menschen verabreicht werden?