Das Unbehagen gegenüber dem Konservativen

Der Erzähler und Poet, Michael Fehr tourt mit dem Musiker Manuel Troller über die Bühnen. Wir stellten ihm Fragen zu seiner Arbeit am Text.

Urs Heinz Aerni: In Erinnerung an einen Auftritt von Ihnen in Leipzig, kommt mir die Formulierung in den Sinn, dass Sie den „Saal gerockt“ haben. Ein Kompliment oder eher…?

Michael Fehr: Doch, ein Kompliment. Es bedeutet jedenfalls, dass etwas geschehen ist, wonach es sich nicht einfach so einigermaßen befriedigt wieder davongehen ließ. Ich denke, dass heute gefährlicherweise zu viele befriedigende oder sogar total bedürfnisgerechte Anlässe durchgeführt werden. Ich halte es demgegenüber für umso wichtiger, sanft zu sein wie ein Lamm und auf die Pauke zu hauen wie der Teufel.

Aerni: Die Titel Ihrer Bücher heißen zum Beispiel „Glanz und Schatten“, „Kurz vor der Erlösung“ oder „Simeliberg“. Wie groß muss der Weltschmerz auf den berühmten Schultern drücken, bis wieder ein neues Projekt angegangen werden muss?

Fehr: Es kann vorkommen, dass Weltschmerz die Motivation für ein Werk ist. Meistens ist es aber das unerträgliche Unbehagen gegenüber allem Konservativen.

Aerni: Wie dürfen wir das verstehen?

Fehr: Ich möchte, dass die Dinge, die stillstehen oder erstarrt sind, in Bewegung geraten und die Dinge, die in Bewegung sind, in Bewegung bleiben. Denn nur Bewegung bringt uns weiter. Um jeden Preis sitzen bleiben und alles zusammenraffen, was man besitzt, bringt nur äußerst kurzlebigen Profit, aber keine echte Hilfe.

Aerni: Rhytmus ist ein wichtiger Teppich, auf dem Ihre Texte zum Tanzen kommen, so scheint es mir. Welche Gemütsart hilft am meisten, um weitermachen zu können oder zu wollen?

Fehr: Vertrauen.

Aerni: Sie treten zusammen mit dem Musiker Manuel Troller auf. Wie habt Ihr Euch gefunden?

Fehr: Wir wurden uns über längere Zeit gegenseitig empfohlen, und haben uns dann auch noch längere Zeit geziert, wonach ich dann doch einmal eine E-Mail geschrieben habe, um Kontakt aufzunehmen.

Aerni: Wie stellen Sie fest, dass ein Text, eine Performance nun stimmt und funktioniert?

Fehr: Ich möchte nicht mit definitiven Antworten bereitstehen, sondern zum Nachdenken anregend, inspirierend tätig sein. Wenn es mir also gelingt, eine größere Frage, intellektuell und emotional auf den Punkt zu bringen, anstatt beispielsweise Moral zu predigen, die ich nicht einmal selber im Stand bin einzuhalten, dann empfinde ich meine Arbeit im Sinne der Freude am progressiven Denken als sinnvoll.

Aerni: Was ermöglicht die Poesie für uns alle im Leben?

Bestenfalls das Erstrahlen von etwas in einem Licht, in dem man es ganz ehrlich noch nie gesehen hat.

 

Info:

Michael Fehr wurde 1982 in Bern geboren. Er studierte 2007 – 2012 am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und am Institut der Hochschule der Künste Bern. Seine Buchpublikationen sind «Kurz vor der Erlösung» (2013), «Simeliberg» (2015) und «Glanz und Schatten» (2017). Er ist die Stimme auf dem Musikalbum «Bruxelles» von Simon Ho (2016). Auf dem Studioalbum «Im Schwarm» (2018) sind einige seiner Geschichten als Songs changierend zwischen Erzählung und Musik erschienen. https://www.michaelfehr.ch

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„Die Poesie verträgt alles“

Florian Bissig versammelt und kommentiert 20 Gedichte aus der Schweiz und hat Mühe mit Poesie im öffentlichen Raum.

Urs Heinz Aerni: Herr Bissig, Sie lesen und besprechen Gedichte, die nun gesammelt als Buch erschienen sind. Im Vorwort steht, dass Lyrik im Trend liege. Ist dem wirklich so und wie machen Sie das fest?

Florian Bissig: Im gesamten deutschsprachigen Raum lässt sich beobachten, dass sich brillante Schriftstellerinnen und Schriftsteller ganz auf die Lyrik konzentrieren – statt nach einem Bändchen gleich zum Roman zu wechseln. Von Berlin ausgehend ist die deutsche Dichtung seit 2000 zu einer neuen Blüte herangereift. Das schlägt sich in den Feuilletons nieder und auch bei wichtigen Literaturpreisen, die in jüngster Zeit mehrfach an Lyriker vergeben wurden. In der Schweiz bekommt die Lyrik auch im Zusammenhang mit der Performance-Kunst wieder mehr Aufmerksamkeit.

Aerni: Sie wählten zwanzig Gedichte aus, um sie zu präsentieren und zu kommentieren. Über Poesie zu reden ist nicht leicht, wie gingen Sie denn vor?

Bissig: Ja, vielen fällt es schwer, über Gedichte zu reden. Das geht auch regelmäßigen Lesern wie mir so.

Aerni: Wieso eigentlich?

Bissig: Der Grund liegt in der Eigenschaft der Lyrik, die Welt in ganz eigenwilliger Weise zur Sprache zu bringen, an die man als Leser zunächst nicht anknüpfen kann. Ich bin aber davon überzeugt, dass es sich lohnt, dem Gefühl der Verständnislosigkeit und Sprachlosigkeit zu trotzen und Lyrik zu lesen und zu diskutieren. Dabei übt man nebenbei Fähigkeiten, die auch anderweitig hilfreich sind, etwa den Umgang mit Vieldeutigkeit und mit anderen Perspektiven. Wenn man nicht aufpasst, erweitert man dabei seinen Horizont! (lacht)

Aerni: Es finden sich Texte u. a. von Gerhard Meier, Klaus Merz, Eugen Gomringer, Franz Hohler, Ilma Rakusa, ja sogar von Mani Matter und Robert Walser. Was muss ein Text haben, damit dieser von Ihnen beachtet wird?

Bissig: Wenn ich die Gedichte nach einem einzelnen Kritierum ausgewählt hätte, wäre das Buch langweilig geworden. Gerhard Meiers «Rondo» etwa fesselt mich durch einen verblüffenden Gedankengang. Klaus Merz «Nach Homer» ist eine ultrakurze, raffinierte Anspielung an die Odysseus-Sage. Und der Text der jungen Dichterin Marina Skalova ist eine formal spannende und sehr musikalische Begegnung der deutschen mit der französischen Sprache. Ich wollte mit dem Bändchen nicht zuletzt die Vielfalt der Schweizer Lyrik zeigen, der heutigen wie derjenigen seit der Moderne.

Aerni: Sie studierten zudem Philosophie, wieviel Poesie verträgt die Philosophie oder anders gefragt, wäre die Lyrik ein guter Weg zur Philosophie?

Bissig: Die Poesie verträgt alles. Darum ist sie seit Pindar und Sappho auch nicht totzukriegen. Sie hält philosophische Spekulation und religiöses Schmachten ebenso aus wie Betrachtungen über die Banalitäten des Alltags. Entscheidend ist, dass das Gedicht nie ganz im Dienst an irgendeiner Sache aufgeht, sondern eben ein gewisses poetisches Etwas mit sich führt. Wie die Philosophie zielt auch die Lyrik oft auf ein Innehalten ab, auf ein radikales Hinterfragen, oder auf einen ganz neuen Blickwinkel.

Aerni: Wir treffen uns in Zürich West, einem schnell wachsenden Stadtteil, wie überhaupt in ganz Zürich. Wo täte im Stadtbild mehr Poesie gut?

Bissig: Ich bin nicht unbedingt ein großer Freund von Poesie im öffentlichen Raum. Man kann ja Gedichte auf Hausfassaden malen und hoffen, dass sie dann von ein paar Menschen mehr wahrgenommen werden. Aber irgend jemand wird sich dann belästigt oder beleidigt fühlen und die Übermalung fordern. Der Sache der Dichtung dienen solche Streitereien nicht wirklich. Am liebsten sehe ich es, wenn die Menschen ihre Nasen in schöne Gedichtbände stecken –  ich meine natürlich nicht nur mein Büchlein (lacht). Das kann im Tram oder am Dorfbach sein. Und es tut auch dem Stadtbild bestimmt besser als die üblichen Smartphone-Zombies.

 

Florian Bissig, geboren 1979, studierte in Zürich, Berlin und Austin. Nach dem Lizenziat in Philosophie promovierte er in Englischer Philologie mit einer Studie zu Samuel Taylor Coleridge. Er schreibt als freier Journalist für verschiedene Schweizer Zeitungen und Zeitschriften über Literatur, Musik und Philosophie und arbeitet an der Übertragung von Coleridges Lyrik ins Deutsche. Florian Bissig lebt mit seiner Familie in Affoltern am Albis bei Zürich.

Florian Bissig: „Mauerlängs durch die Nacht – Kleine Anthologie der Schweizer Lyrik“, Limbus Verlag, ISBN 978-3-99039-131-0, Gebunden mit Lesebändchen, 96 Seiten.

 

Dieses Interview ist auch in der P. S. Zeitung, im Anzeiger Bezirk Affoltern, in Zürich West und Berglink.de

 

„Damalige und zeitgenössische literarische Kreativität vermengen sich.“

Vom 7. bis 11. März 2018 findet in Konstanz das Festival „MINNE meets POETRY“ statt. Zusammen mit dem Kulturamt durfte ich ein Programm zusammenstellen. Später lesen Sie hier meine Gedanken dazu, doch vorher haben die Leiterin des Kulturamts, Sarah Müssig, und ich Fragen beantwortet; lesen Sie das Interview hier…

Und wer es genau wissen möchte, was am Festival geboten wird, kann hier anklicken…