Freiheit oder Risiko?

In der NZZ AM SONNTAG erklären Expertinnen und Experten, dass das Sars-CoV-2 nur ein Ziel hat: sich vermehren und verbreiten. Das ist ein Naturgesetz. Deshalb sind bei allen Viren laufende Mutationen zu beobachten, um sich neuen Situationen anzupassen. Was bei Corona, für das es noch kein Impfmittel gibt im Gegensatz zu den Grippe-Viren, anders ist und wie viel wir noch nicht wissen, macht dieser Bericht deutlich, den Sie hier lesen können:

https://nzzas.nzz.ch/wissen/corona-bulletin-8-sauerstoffsaettigung-zuhause-messen-ld.1555703#subtitle-wie-das-coronavirus-mutiert-second

Parallel zu diesem noch großen Unwissen seitens Wissenschaftler über das Phänomen Corona, werden die Proteste gegen die Schutzmaßnahmen der Regierungen und Behörden lauter. Nun, in der Tat könnte diese Krise den Machthabern mit diktatorischen Gelüsten und Parteien mit nationalistischen Vorstellungen in die Hände spielen. Und doch, haben die demokratisch gewählten Behörden die Pflicht und die Verantwortung, das Leben und die Gesundheit über wirtschaftliche Interessen zu stellen.

Immer mehr Menschen gehen nun auf die Straßen und verlangen das normale Leben zurück. Zu ihnen gesellen sich aber immer mehr Leute, die Corona als normale Grippe abtun oder sogar behaupten, dass es ein Produkt von Gehimdiensten sei. Über die verschiedenen Maßmahmen und Entscheidungen der Regierungen kann und soll diskutiert werden. Diese Krise sei eine „demokratische Zumutung“, so die Deutsche Bundeskanzerlin Angela Merkel und zeigt, wie jetzt die Demokratien mit ihrer Meinungsvielfalt und Pluralismus auf dem Prüfstand stehen.

Dass sich jetzt immer mehr Menschen öffentlich getrauen, Theorien zu verbreiten, deren Quellen und Absicherungen mehr als fraglich sind, verblüfft einerseits und überrascht andererseits nicht, denn solche Bewegungen sind immer wieder entstanden, von der Spanischen Grippe, in Zeiten von Kriegen oder nach Umweltkatastrophen.

Doch heute? Noch nie war der Zugang zu Wissen und Bildung so einfach und frei. Die Aufklärung hätte bewirken sollen, sich von Halbwahrheiten, seltsamen Glaubensbkundungen und ungesicherte Thesen befreien zu können. Und was geschieht stattdessen? Menschen gehen lärmend auf die Plätze und Straßen und pauken Meinungen in die Luft, als hätten sie das ganze Wissen der Welt unter ihrem Schädel.

Im sogenannten Zeitalter der Kommunikation fristet nach wie vor eine Kunst ein Schattendasein. Die Kunst, Fragen zu stellen mit dem Ziel, das eigene Verstehen zu optimieren und anzuerkennen, dass diese Fähigkeit nie enden wird.

Urs Heinz Aerni

Die Bilder stammen vom Fotografen Konstanin Weiss von einer Demonstration am 10. Mai 2020 in Zürich.

© Konstantin Weiss, Dottikon (Schweiz) 10. Mai 2020 in Zürich
© Kontantin Weiss, Dottikon (Schweiz) 10. Mai 2020 in Zürich

 

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Echte Ressourcen

Die Schweiz holt sich, was sie braucht. Öl und Gas wird aus dem Osten und Norden bestellt und durch Pipelines und Rheinschiffe ins Land geschafft, für gutes Geld. Diamanten und Edle Erden finden wir nicht in unseren Bergen, dafür im Kongo oder Südafrika. Es wird investiert, für Traumumsätze in Boutiquen und auf dem digitalen Markt. Die feine Schweizer Schokolade gibt’s bekanntlich nur durch importierten Kakao aus Übersee. Das Beste vom Besten kaufen wir uns in der ganzen Welt zusammen. Touristen aus dem Fernen Osten werden bussweise durchs Land geschleust, mit Stopps an Shops.

Clever die Schweiz! Da haben wir quasi null Bodenschätze und sind im Club der reichsten Länder. Schlau sind sie, die Eidgenossinnen und Eidgenossen, helle auf der Platte, wie man so sagt. Kreativ, fantasievoll und raffinierter Unternehmergeist ermöglichen Geldsegen durch komplexe Anlagegeschäfte, Finanzprodukte, chemische Zauberstücke und tickende Accessoires an den Handgelenken. Alles geboren und entwickelt unter der Schädeldecke.

Kurz: gut gebildete, geübte, ja trainierte Gehirne zwischen Rhein und Ticino, zwischen Boden- und Genfersee. Das Wissen ist also das Lebenselixier eines boomenden Globalplayers, entstanden in einem Bergland, in dem einst die Hellebarde und der Melkschemel die wichtigsten Werkzeuge waren.

Sie werden nun sagen: „Endlich schreibt der Aerni mal was Positives und lässt das Meckern.“ Mitnichten, liebe Leserin und lieber Leser, denn jetzt hole ich wortmächtig aus, gegen den Kostendruck an Schulen, den Verzicht auf Geisteswissenschaften an Technischen Unis, die Bürokratisierung im Schulwesen, ungelöste Herausforderungen in der Schulreform… doch, leider ist mein Kolumnenplatz soeben verschrieben…

Urs Heinz Aerni

 

 

Erschienen in der Zeitung Bündner Woche

Falscher Job?

Der Zürcher Gemeinderat Samuel Balsiger (dessen Partei hier nicht genannt wird, in der Hoffnung, dass sie nicht auch so denkt) meinte in einer Kolumne im Tagblatt der Stadt Zürich, dass die «Klimahysterie eine postreligiöse Form» angenommen habe, dass bei den Rechenmodellen «unzählige Interessen» einflößen, dass es fraglich sei, ob die Klimaveränderung menschengemacht sei, und legte die Verantwortung für den Fortschritt auf die Schultern der Wissenschaft, Forschung und Industrie, nicht der Politik.

Noch nie in der Erdgeschichte wurden so viel fossile Ressourcen aus dem Boden geholt und verbrannt wie während der industriellen Epoche der Menschheit. Kein Lebewesen sonst verbaute in dieser kurzen Zeit solche Dimensionen an natürlichem Boden. Noch nie in der Geschichte schrumpfte die Artenvielfalt in so kurzer Zeit wie seit dem 20. Jahrhundert. Und wir wissen, ohne Artenvielfalt erodiert die Kraft unserer Lebensgrundlage, die Natur. Seit Jahrhunderten nutzte der Mensch die Natur als Lieferant, und wenn nun ein Zeitalter eingeläutet wird, in dem man sich ihrer erinnert und sorgt, liest man im Kommentar des genannten Politiker, dass es sich hier um «Ideologie» handle.

Die Wissenschaft beweist den Artenverluste in Rekordgeschwindigkeit. Forschung und Bildung verdienten Unterstützung, um für eine künftige Lebensqualität in der bestmöglich intakten Umwelt zu sorgen. Und Industrie und Wirtschaft müssten einsehen, dass nicht Maximalrendite das Ziel sein sollte, sondern eine langfristige Existenz. Damit das alles im Interesse der Bürger auch geschieht, braucht es eine Übersicht und Verwaltung. In diese Verwaltung werden Politiker gewählt. Und wenn ein Politiker erklärt, dass dies nicht seine Aufgabe sei, dann hat er den falschen Job und müsste ersetzt werden.

Urs Heinz Aerni

 

Der passende Buchtipp: „Schweizer Staatskunde“ von Ueli Leuthold und Jilline Bornhand, Compendio Bildungsmedien, ISBN 978-3-7155-7757-9

„Damalige und zeitgenössische literarische Kreativität vermengen sich.“

Vom 7. bis 11. März 2018 findet in Konstanz das Festival „MINNE meets POETRY“ statt. Zusammen mit dem Kulturamt durfte ich ein Programm zusammenstellen. Später lesen Sie hier meine Gedanken dazu, doch vorher haben die Leiterin des Kulturamts, Sarah Müssig, und ich Fragen beantwortet; lesen Sie das Interview hier…

Und wer es genau wissen möchte, was am Festival geboten wird, kann hier anklicken…

 

 

 

Geld für Militär statt Bildung in der Schweiz

Heute las ich diese Schlagzeile in der Zeitung!

Die Schweiz lebt nicht von Erdöl, Diamanten oder Gold, sondern von Geist, Wissen und Kreativität. Unser „Gold“ läge in den Köpfen. Die Schweiz wird für sein direktdemokratisches System bestaunt und Bürgerinnen und Bürger stimmen regelmäßig über komplexe und landesbestimmende Themen ab, was Lese- und Entscheidungskompetenzen staatstragend wichtig machen. Und was macht die Bundespolitik wie auch zum Teil die Kantonspolitik? Sie sparen bei Bildung und Schule und investieren mehr ins Militär, Infrastrukturen und Verkehrswesen. Ohne vor allem die zuletzt beiden genannten Bereiche negieren zu wollen, zeigen solche Entscheidungen, wie die immense Wichtigkeit der Bildung und das Sprachvermögen unterschätzt oder verkannt wird. Als würde man dem Goldschürfer den Griff zur Schaufel erschweren.

 

Urs Heinz Aerni

Wissen, Kampfmittel gegen Gewalt?

Es ist wieder mal so weit. Der futuristisch anmutende ICE von Zürich nach Lausanne bleibt unter dem Metallgewölbe des Oltner Bahnhofs stehen. Da sitzen sie nun, die lärmenden Schulklassen, das Rentnerehepaar, der amerikanische Tourist und die gegenüber sitzenden jungen Damen. Die eine strickend, die andere in die Elektronik des Handys und der Kopfhörer abtauchend. Zehn Minuten … eine halbe Stunde, und das alles ohne plärrende Orientierung durch die Lautsprecher. Die Luft wird stickig, die Stimmung gereizt. Kopfschütteln, Fingertrommeln, Aufstehen und Hinsetzen kündigen aufkommende Aggressionen an. Unsicherheit entsteht durch Unwissenheit. Warum geht es nicht weiter? Was ist passiert? In diesem Moment versagt unsere Informationsgesellschaft einmal mehr. Wie viele Passagiere hätten ihr Königreich für eine Erklärung zur rechten Zeit gegeben … Können Wissen, Information oder Aufklärung aufsteigende Aggressivität dämpfen? Führt vernetztes Verstehen zu Geduld und Nachsicht? Die Meinungen gehen auseinander.  Simone de Beauvoir sagte mal: «Die Unwissenheit ist eine Situation, die den Menschen so hermetisch abschließt wie ein Gefängnis.» Die festsitzenden Zugreisenden hätten bei diesen Worten kräftig applaudiert.

Wissen ist nicht Wissen

In diesem anscheinend grundlos stehenden Zug sitzen Menschen, die vielleicht einen PC zusammensetzen, ein langes Gedicht aufsagen oder chemische Formeln erklären könnten. Doch trotz all dem hier versammelten Konzentrat an Wissen und Fähigkeiten kommt der Zug nicht ins Rollen, und das Klima wird auch nicht besser – in jeder Hinsicht. So vielfältig unsere pluralistische Gesellschaft sich präsentiert, so einfältig kann spezifisches Wissen oder fachkompetente Kenntnis in gewissen Situationen des Lebens sein. Ein Fakt, der im Alltag wie in großen Weltanschauungsfragen ersichtlich wird. Thomas Avenarius bestätigt in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung die oft erwähnten Verdachtsmomente, dass junge Menschen in gewissen Koranschulen eher eine «Gehirnwäsche denn eine theologische Bildung» erführen. Dass diese Problematik aber nicht als islamisches Phänomen betrachtet werden darf, sondern alle Ideologien und Religionen betrifft, bestätigt Dr. Arthur Schärli, Präsident der Allgemeinen Berufsschule Zürich: «Wenn man daran denkt, was in früheren Jahrhunderten im Namen des Christentums oder auch heute noch in Nordirland – geschehen ist, dann nützt hier auch ‹vertiefte Kenntnis› nicht besonders viel.»

Der Buchautor und Professor für Geschichte und Germanistik Bernhard von Arx (1924 – 2012) aus Zürich plädierte für die Breite der Bildung: «An höheren technischen Lehranstalten kann oft nur noch von Ausbildung statt Bildung gesprochen werden. Dies als Folge des heutigen Trends, unter dem Druck der Wirtschaft genügend Fachkräfte (und eben nicht gebildete Menschen) heranzuzüchten. Das kommt davon, dass seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert der Glaube an die unbeschränkte Machbarkeit dank Forschung immer mehr gewachsen ist. Dazu tritt die immer stärkere Spezialisierung, sodass sich etwa zwei Physiker mit derselben Grundausbildung nicht mehr ohne weiteres verstehen.»

Michael Forcher, Historiker und ehemaliger Verleger in Innsbruck, formuliert den Gedanken, wie eventuell eine «bessere Gesellschaft» als Reaktion darauf installieren könnte, «dass man die Schwächeren weniger unterdrückt, wenn man Geige spielt statt Börsenkursen nachhechelt, wenn Harmoniebedürfnis gegenüber Konkurrenzkampf aufholt».

Wissen ist Macht, Unwissen macht ohnmächtig

Auf die Weltgeschichte zurückblickend, muss die Tatsache registriert werden, wie Wissen bewusst als Manipulierinstrumentarium angewandt wurde. Bei Lichte betrachtet, dürfte man jedoch auch zur Überlegung gelangen, dass Unwissenheit dienlich für die Beeinflussung war. Gerne wird auf die Nazi-Zeit verwiesen, da ja die dominierenden Schergen nicht dumm oder ungebildet gewesen seien. Nun, waren sie wirklich gebildet? Kann man von Bildung reden, wenn mit großer Wortgewaltigkeit um sich geschlagen und eine gut durchdachte Rhetorik eingesetzt wird? Es ist keine historische Neuentdeckung, wenn beschrieben wird, wie Massen durch inszenierte Dramaturgie in alle gewünschten Richtungen bewegt worden sind. Wie verhielten sich die gebildeten Menschen, oder anders formuliert, die Menschen, die im Bilde waren? Wie viele machten sich ein kritisches Bild? Eine Frage, die nicht befriedigend zu beantworten ist. Allerdings werden in totalitären Systemen diejenigen verfolgt, die hinterfragen, die mehr wissen wollen oder zu zweifeln wagen. Wissen kann Macht generieren oder die Macht entmächtigen. Die Reformation wurde unter anderem durch die in Volkssprachen übersetzten Bibeln möglich. Das Volk begann zu lesen und zu wissen. Es begann Eigenverantwortung wahrzunehmen. Das eigene Schicksal konnte in die eigenen Händen genommen werden. Aus war es mit dem Fatalismus oder dem blinden Vertrauen gegenüber Zeitgenossen, die sich als Seelen- und Wissensverantwortliche sahen. Die daraus wiederum entstandene neue Gewalt durch Kriege, Aufstände und Revolten manifestierte erneut die Begrenztheit des Weiterdenkens. Trotzdem kann Gewalt durch Verständnis verhindert werden. Dieses Verständnis basiert auf Verstehen und Verstehen wiederum auf Wissen.

Bescheid zu wissen, ist beruhigend. Ein Aufatmen der Erleichterung geht durch die ICE-Sitzreihen, als der Schaffner mit lockerer Krawatte und gewinnendem Lächeln dann doch noch mit Red und Antwort für das zögerliche Fahrverhalten erscheint. Als die Fahrgäste zu verstehen geben, wie ärgerlich die Dreiviertelstunde mit stummen Lautsprechern war, sagt der verblüffte Mann: «Das habe ich gar nicht gewusst.»

Hoffen wir für 2016 auf fahrende Züge und auf Frieden, gestützt aufs Wissen und Verstehen.

 

Das Cover stammt von diesem Buch: „Eine Geschichte des Lesens“ von Alberto Manguel, ISBN/EAN: 9783596175154, 480 S.