Der wahre Feind

Zum Gastkommentar «Religion als Feindin des Friedens?» von Giuseppe Gracia im Bündner Tagblatt vom 13. August.

«Der Atheismus hat mehr Menschen getötet als alle Religionen», sagt der Churer Bistumsangestellte Giuseppe Gracia mit dem Versuch, diese fragwürdige Aussage mit Zitaten aus der Weltliteratur zu untermauern. Folgende Fragen zu ausgesuchten Kernaussagen im Kommentar gehören debattiert:

Gracia: Kommunismus und Nationalismus forderten 50 Millionen Leben. Stimmt. War Hitler nicht Katholik? Hatte die Katholische Kirche nicht schon immer die Juden als Jesus-Mörder gebrandmarkt, allerdings flankiert von Bewegungen aus der Reformation und Freikirchen? Wurden das Zarenreich und die kommunistische Diktatur nicht getragen von der Orthodoxen Kirche? Ohne hier ausführlich auf all die anderen Diktaturen wie in Chile, Argentinien, Spanien und Ländern in Afrika eingehen zu müssen, stellt sich die Frage, wo die Kirche das Gewissen der Menschenrechte einbrachte, abgesehen von der Befreiungstheologie.

Gracia: Wie frei sind die Menschen wirklich? Wie frei durften Kinder und Jugendliche in Internaten denken und leben? Wie frei sind heute Menschen mit den Altlasten der sexuellen Übergriffe von Männern, die unter einem unbiblischen Gelübde Druck abbauten?

Gracia: Leistungsorientierte Selbstoptimierung generiert Erschöpfungszusammenbrüche, ein spirituelles Vakuum, Depressionen und «Selbstmorde». Stimmt, doch wie vielen depressionskranken Menschen, die keinen Ausweg als Suizid sahen, wurde eine Abdankungsmesse verweigert? Wie viele psychiatrische Patienten wurden in kirchlich geführten Anstalten eingesperrt statt therapiert? Warum wurde die Anerkennung von Geisteskrankheiten erst durch die Wissenschaft ermöglicht? Wie viele unschuldige Frauen wurden als Hexen verbrannt und ertränkt, auf Geheiß der Kirche? Wie viele psychisch kranke Menschen wurden durch Exorzisten und Dämonenaustreibungen gequält statt behandelt?

Gracia: Alle Staaten ohne garantierte Religionsfreiheit sind verbrecherisch. Stimmt. Sind es nicht die säkular und demokratisch gestalteten Staaten, die das bieten? Unterdrücken nicht die sogenannten «theokratisch» getrimmten Regierungen jegliche andersglaubende Lebenshaltung? Jan Hus wurde 1415 in Konstanz trotz gegenteiligem Versprechen auf Befehl der Kirche verbrannt. Verfolgen nicht Banden heute noch im religiösen Wahn sogenannte Ungläubige? Kann sich ein Muslim für eine Arbeit in der Vatikan-Stadt für einen Job bewerben?

Gracia zitiert Rosa Luxemburg: «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.» Dachten damals die Kreuzritter das auch, bevor sie im «Verheissenen Land» Schädel von Gross und Klein einschlugen? War das die Gesinnung der Kapitäne und Kriegsherren, die in der Neuen Welt einmarschierten, um den indigenen Völkern den Garaus zu machen, es sei denn, sie, die «Heiden», hätten bereut? Versuchten nicht die Missionare den heimischen Völkern in der Südsee ein Glaubens- und Lebenssystem aufzuzwingen, das sie nicht brauchten? Wie viel Gottessehnsucht und Scheuklappen-Weltsicht führte zu unsäglichem Elend im Jugoslawienkrieg und in Nordirland?

Giuseppe Gracia arbeitet mit Sprache, Text und Denken, und wieso fällt es dem Verfasser schwer, seine Weltsicht nicht als einlullende Betriebsblindheit zu interpretieren, hegend jedoch mit der stillen Hoffnung, dass er im gemütlich eingerichteten Glaubens-Zimmer mal alle vier Wände umstossen wird, um sich neuem frischen Wind auszusetzen.

Urs Heinz Aerni

Dieser Beitrag ist auch im BÜNDNER TAGBLATT und in der BÜNDNER WOCHE erschienen.

Buchtipp:

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Beten für das Gegenteil?

Es gab Zeiten, da war der große Aletschgletscher im Wallis mit seinen 23 Kilometern eine Gefahr, weil er wuchs. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert lebte die Bevölkerung in Angst vor Seeausbrüchen, Geröll- und Schlammlawinen. Als „Gegenmaßnahme“ legten die Bewohner ein Gelübde ab, das von Papst Innozenz XI genehmigt werden musste. Darin beteten sie um den Stopp der Ausdehnung des Gletschers. Während all die Jahre des jährlichen Gebetes schleuderte die Zivilisation Gift in die Luft und die Böden, pflanzte Monokulturen, industrialisierte die Landwirtschaft, verbaute Land mit Einkaufszentren und Autobahnen und verwandelte die fossilen Stoffe in Schall und Rauch.

Und, was geschieht? Der Gletscher begann nun zu schmelzen und zu schrumpfen. Die Menschen jubeln nicht, sie sehen sich nun vor einer neuen Gefahr gegenüber: das Wasser für Vieh, Wiesen und eben Mensch droht zu versiegen. Wir befinden uns jetzt im aufgeklärten 21. Jahrhundert. Was tun? Weniger Stickstoffe in die Böden pumpen, weniger fossile Ressourcen verheizen, sparsamer Energie verschwenden, weniger die Landschaft zubetonieren, mehr Verantwortung gegenüber Umwelt übernehmen? Nein, eine neue Bewilligung des Heiligen Vaters einholen um nun in Prozessionen gegen den Gletscherschwund beten zu dürfen.

Ich muss mal den Journalistenverband anrufen und fragen ob es auch ein Gebet gibt für mehr Leserinnen und Leser gibt oder ob ich einfach besser schreiben muss.

Urs Heinz Aerni

Der passende Buchtipp: „Der Dominoeffekt oder die unsichtbaren Fäden der Natur“ von Gianumberto Accinelli, Verlag S. Fischer Sauerländer, ISBN 978-3-7373-5471-4

Brauchen wir Helden?

 

Der Gang zum Kiosk war für mich als Kind jeweils ein Ritual mit großer Vorfreude. Ich guckte hoch zur Dame, der Königin der vielen Comicshefte um sie herum. Sie reichte mir feierlich entweder Bessy, Asterix, Superman oder das Zack mit Leutnant Bluberry und Michel Vaillant. Sie retteten uns kleinen Jungs damals nicht nur die Welt, sondern auch den verregneten Mittwochnachmittag.

Helden brauchen wir dann, wenn wir überfordert, verzweifelt und hoffnungslos sind. Helden werden durch Elend und Not geboren oder produziert. Wann braucht es sie nicht? Wenn Machtlosigkeit durch Wissen, Eigenverantwortlichkeit, Kreativität, Mut, Aktivität und Courage verhindert oder umgangen werden kann. Seit der Aufklärung schienen die Chancen gegeben zu sein, von Theokratien und Monarchien abzurücken um sich der Demokratie hin zu entwickeln. Es war Zeit, jedem Einzelnen mehr Verantwortung und Mitspracherecht zu übergeben. Nach dem Wahn von Diktatoren, die zu Weltkriegen, Arbeitslagern und Hirnwäsche führte, schimmerte am Horizont die Hoffnung auf Vernunft und Differenzierung. Was passiert nun?

In der Türkei hieven die Massen einen Machtbesessenen in den Palast, der iliegalerweise in einem Naturschutzgebiet steht. In den USA wird ein polternder Selbstdarsteller ins Weiße Haus gewählt. In Italien glaubten viele das, was ein Macho durch seine eigenen Sender plärrte. In Russland wird nach dem Zarenterror einen neuen Zaren mit Krawatte verehrt. In Deutschland bringt es ein Mann fertig, mit lauten Reden, die Wähler in Rage zu bringen obwohl sein Programm aus dem besteht, was andere schon versprechen. In der Schweiz verlernt man hoffentlich nicht das Zuhören, Abwägen und das Entscheiden im Interesse für Mensch und seine Umwelt. Wenn doch, dann kaufe ich mir am Kiosk meinen Superman.

 

Der Beitrag erschien auch in der Zeitung Bündner Woche

Hitler lesen?

Die kommentierte Neuausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ sorgt für Umsatzzahlen im Buchhandel und die Frage, ob man das Buch lesen soll.

Wie kann man gegensteuern wenn die Sichtweise des Andern unbekannt ist? Deshalb ist eine Einschätzung über die Hintergründe der Hitler-Katastrophe nur möglich, wenn das Weltbild und deren Einseitigkeit dieses Mannes erkannt wird. Aber wir haben ein anderes Problem. Das Tempo und die Bildlastigkeit der aktuellen Gesellschaft fördert nicht die Geduld des differenzierten Lesens und Nachfragens um sich ein eigenes Bild machen zu wollen. Sofort und überall werden Meinungen und Kommentare gepostet, quasi aus der Hüfte geschossen. Der sachorientierte Austausch, die Absicht, das Ganze richtig verstehen zu wollen geht im Lärm der Besserwisser und Instant-Welterklärter unter. Könnte es sein, dass der bunte Peoplezirkus und die Lust an Skandalhäppchen dazu führen, dass wir wieder in die Zeiten zurückkatapultiert werden, in denen man sich nach Aufklärung sehnte?

Weitere Informationen beim Institut für Zeitgeschichte in Berlin und München, Herausgeberschaft