Schwarzer Schatten

Das Fenster steht offen, ich sitze eine Kolumne in der Bündner Woche am Laptop. An amüsantem Stoff aus dem Alltag mangelt es nicht. Aber mir fehlt es angesichts der Weltlage die Worte. Die Worte für Sie zur erbaulichen Lektüre.

Die ersten Vögel aus dem Süden sind bereits wieder zu hören und zu sehen. Die Unterhaltung mit einer liebenswürdigen Dame im Zug, die erschöpft aber glücklich aus dem Engadin nach Bern fährt, oder von der gelungenen Kinopremiere von Daniel Felix übers Wandern böten Anekdoten.

Aber einfach so schreiben, als würde es in der Ukraine nicht brennen? Der von mir hochgeschätzte Schriftsteller Michail Schischkin ist ein Jahr älter als ich, in Moskau geboren und lebt mit seiner Familie schon viele Jahre in der Schweiz. Viele internationale Preise wurden ihm verliehen, seine Romane wurden zur Schullektüre.

Wir unterhielten uns immer wieder über Russland, öffentlich auf Bühnen oder beim Glas danach. Nach einer Veranstaltung im schönen Hall in Tirol sagte er mir, dass nach der Lüftung des Eisernen Vorhangs Russland sich wieder zu einem Zarenreich zurückentwickle. Seine Kritik führte dazu, dass seine Bücher wieder aus Russlands Schulen entfernt wurden.

In diesen Tagen engagiert sich Schischkin sehr beeindruckend gegen den Krieg; er schreibt, demonstriert, hält Reden und stellt sich Debatten in den Medien. In der Sendung «Arena» auf SRF sagte er deutlich, wie er sich schäme für dieses Russland und dass Putin ein Verbrecher ist.

Nun, ich sitze hier am offenen Fenster, lausche der Amsel und darf die Deadline dieser Kolumne nicht verpassen. Ist halt so bei einem freischaffenden Journalisten. Aber wenn ich diese Kolumne rechtzeitig abgeben kann, spende ich das Honorar den Menschen in der Ukraine, die von meinen Sorgen nur träumen können.

An einer Podiumsveranstaltung, meinte kürzlich der Ständerat Ruedi Noser, dass diese Fakten nicht wegdemonstriert werden können, zum Beispiel mit Kuhglocken.

Dieser Kriegsschock wirft einen solch schwarzen Schatten auf die Alltagskleinigkeiten, dass es unmöglich ist, hier und jetzt über was Nettes schreiben zu können. Wie es dann sein wird bei der nächsten Kolumne, wird sich zeigen. Bis dahin beschäftigt mich ganz sicher dieser Wunsch:

Es müssen politische und gesellschaftliche Systeme verhindert werden, die einem Geisteskranken ermöglichen, zu einem Massenmörder zu werden.

Urs Heinz Aerni

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Veröffentlicht von

Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni wirkt als freischaffender Journalist BR ZPV, Kommunikationsberater, Kulturvermittler und Vogelbeobachter. Weitere Informationen: www.ursheinzaerni.com

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