Am 29. Mai 2021 blätterte ich die NZZ auf um den Artikel «Dünger als Philosophie» zu lesen, der mit den Worten «Eine spirituelle Lehre gerät in der Pandemie unter Verdacht» angekündigt wurde. Birgit Schmid versuchte der von Rudolf Steiner (1861 – 1925) gegründeten Anthroposophie für die Zeitung auf den Grund zu gehen, was ihr lesefreundlich gelang.
Die Reformation befreite ab dem 16. Jahrhundert ganze Völker von Dogmen der Katholischen Kirche, wobei der Pegel der Intoleranz nach calvinistischer Manier in neue Extreme ausschlug. Im Fahrwasser der verheerenden Unterwerfung der Welt durch die Kolonialmächte nutzten Forscher die Entdeckungen exotischer Flora und Fauna für neue Rückschlüsse, die wieder festgezurrte Weltbilder zum Erodieren brachten. Charles Darwin (1809 – 1882) ebnete mit der Evolutionstheorie den Niedergang alter Gottesbilder und den Weg der Funktionalität mit Auswirkungen in Wirtschaft und Politik. Charles Dickens (1872 – 1870) beobachtete literarisch die Früchte der Industrialisierung wie Gier und Armut. In dieser Zeit entstanden viele neue Denkversuche und Bewegungen um für das elende Dasein neue Visionen oder auch nur Trost zu finden. Sigmund Freud (1856 – 1939) suchte Antworten in den Tiefen der Seelen, Carl Gustav Jung (1875 – 1961) weitete diese Suche mit Symbolik, Alchemie und Farben aus. Im 19. Jahrhundert entstanden Gemeinschaften wie «Ernste Bibelforscher», «Adventisten», die «Heilsarmee», die «Neuapostolische Kirche» oder die «Mormonen» um nur einige zu nennen. Denkmuster und Visionen sind Resultate gesellschaftlicher Biotope. Jede neue Denkweise beginnt als Revolution und sickert mit der Zeit in unser Alltaggefüge in einer erträglichen Restdosis.
Und doch enden wir frei nach Bertold Brecht (1989 – 1956) so: «Wir sehn betroffen – Den Vorhang zu und alle Fragen offen.»
Urs Heinz Aerni