Weihwasser gegen Schnaps?

Die Kleinstadt Twer, nordöstlich von Moskau, habe ein Problem. Überdurchschnittlich viele Bewohnerinnen und Bewohner seien hier dem Alkohol verfallen. In ganz Russland sterben pro Jahr Tausende Menschen an den Folgen dieser Sucht. Heuer seien es schon 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Nun, zu erwarten wären Gegenmaßnahmen wie Bekämpfung der Armut und Arbeitslosigkeit, Förderung von Aufklärung, Bildung und Eigenkreativität, Gründung von Selbsthilfegruppen, Einrichtung von psychologischen Hilfestellungen, Ausbau des Freizeit- und Vereinsangebots und ähnliches. Doch stattdessen besteigt ein russisch-orthodoxer Geistlicher ein Kleinflugzeug und gießt auf dem Überflug der genannten Stadt aus einemgoldenen Kelch durch eine Luke in 300 Meter Höhe 70 Liter Weihwasser über die Stadt aus. Das solle helfen, nüchtern zu bleiben. Vor ein paar Tagen bestellte ich bei meinem Lieblings-Imbissstand in der Zürcher Altstadt ein Glas Rotwein und ein Poulet-Bein mit Brötchen. Der freundliche junge Mann servierte, wünschte einen guten Appetit und sah etwas verträumt auf den Passantenstrom in der Gasse. Da Schweigen nicht ganz mein Ding ist, fragte ich ihn, ob er hier schon länger arbeite. Im weiteren Gesprächsverlauf erfuhr ich, dass seine Familie aus Mazedonien undSlowenien stamme, er eine ziemlich schlimme Geschichte hinter sich hätte, einem Freund seinen Reichtum durch den Profifußball gönne, auch wenn er selber nur Würstchen verkaufe und, dass er trotz seines zarten Alters von 27 Jahren sich innerlich eher 55 Jahre alt fühle. Er war offen und ehrlich, ich beeindruckt ob seinem Schicksal. Beim Zahlen gab er mir die Hand und dankte warm und innig für diese Konversation.Wer sagt dem russischen Priester, dass es noch andere Methoden gäbe um Menschen zu helfen als Weihwasser aus dem Flugzeug zu kippen?

Urs Heinz Aerni

Der passende Buchtipp: „Exit – Warum wir weniger Religion brauchen“, Mit Beiträgen von Constanze Kleis, Helmut Ordner, Andreas Altmann, Philipp Möller, Richard Dawkins, Michael Schmidt-Salomon und Hamed Abdel-Samad.Nomen Verlag, ISBN 978-3-939816-61-4

Der Beitrag erschien auch in der Zeitung Bündner Woche

Werbung

Eine Wahlkampagne mit Fragezeichen

Die Schweizerische Volkspartei SVP (mit nicht unähnlichem Programm wie AfD und FPÖ) behauptet in ihrem Wahlkampf-Extrablatt, dass Feuerwehrleute und das Pflegefachpersonal diese Partei wähle, am 20. Oktober.

Da ich das nicht wusste, fragte ich bei Verbänden nach, ob das stimme. Bin gespannt auf die Antworten…

Ausschnitt aus besagten dem Extra-Wahlkampf-Blatt

Erste Reaktionen auf die Behauptung der SVP finden sich auch hier…

Jagd nach Schwein oder Glück?

Die Kolumne in der Bündner Woche läuft bekanntlich unter «Aufgefallen» und wissen Sie was, zwischen den Abgabeterminen fällt mir sehr Vieles auf, was es verdiente, darüber zu schreiben. Beispiele? Ich wuchs in der Nähe der Grenze zu Deutschland auf und liebte den Radiosender SWF3 mit «Pop Shop» oder Else Stratmann. Nun wollte ich modern sein, kaufte mir ein portables DAB-Radio und höre da, dieses neue System lässt nicht mehr zu, dass wir SWR oder ORF hören können, sondern nur noch CH-Sender von Radio Zentralschweiz bis Radio Argovia, die ziemlich alle denselben Sound bringen. Kurz: Die digitale Revolution engt den audiotechnischen Horizont ein. Im Kanton Solothurn erlegte ein Jäger aus Versehen drei Haus-Wollschweine, in den Wäldern Niederösterreichs wird nach einem Känguru gesucht, von dem jede Spur fehlt, bis zur Drucklegung dieses Textes und in Rom dürfen Touristen sich nicht mehr auf die Spanische Treppe setzen.

Und dieses Buch fiel mir nicht nur vor kurzem auf, sondern in die Hände: Vallotton konnte nicht nur malen, das Schreiben beherrschte er ebenso. Der aus Lausanne stammende Maler und Grafiker (1865 – 1925) verbrachte die letzten 43 Jahre in Paris. Die Stadt ist auch Schauplatz seines Romans, der heute übersetzt vorliegt. Erzählt wird das Leben eines Mannes, der in der Kindheit mit traumatischen Unglücksfällen konfrontiert wurde und doch immer wieder die Lebensfreude zurückgewann. Leidenschaft bilden die Koordinaten dieser Geschichte über die unglückliche Jagd nach dem Glück. Der Unglücksjäger übrigens, bat öffentlich beim Wollschweinbesitzer um Entschuldigung.

Urs Heinz Aerni

Das Buch: „Das mörderische Leben“ von Félix Vallotton, NZZ Libro, ISBN 978-3-03823-586-6

Wo beginnt der Wahn?

„Wir lieben nicht, wir tanzen wie Nachtfalter um das künstliche Licht“, dies schrieb Christine Lavant in ihren Aufzeichnungen, die 1946 entstanden sind. Damals zeigte sich der Verleger begeistert, doch seinem Wunsch, den Schluss „fromm“ zu gestalten, konnte die Autorin nicht entsprechen. Jahrzehntelang lag das Manuskript brach. Erfreulicherweise ist nun dieser bemerkenswerte Text als Buch greifbar. Christine Lavant begab sich damals freiwillig in eine „Irren-Anstalt“. Die Ich-Erzählerin beschreibt in berührender Weise die Zustände im Heim, das Leben der Insassen und des Personals. Auch die eigene Person ist Bestandteil der schonungslosen Analyse. Vermutlich hätte das Buch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Skandal ausgelöst, und wahrscheinlich bewegen diese Worte auch die Leserin und den Leser heute zutiefst. Die Nähe zwischen Genialität und Wahn, Ironie und Zerfall war und ist heute noch oft die Ursuppe großer Literatur, was Namen wie Joesph Roth, Friedrich Glauser oder Robert Walser bestätigen. Christine Lavant beweist mit ihren neu zu entdeckenden Texten zudem einmal mehr, dass die Grenze zwischen Wahn und „Normalität“ alles andere als klar ist.

Das Buch: „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ von Christine Lavant, Wallstein Verlag, 978-3-8353-1967-7,  (2001 wiederaufgelegt vom Otto Müller Verlag)