Kritik ohne Kontext?

 

Von einer seriösen Kritik wird heute Differenziertheit und Berücksichtigung des Kontextes des zur Debatte stehenden Objekts oder Subjekts erwartet. Mit anderen Worten, es darf kritisiert werden aber eingedenk der Hintergründe und mit dem Versuch, zu verstehen. Soweit einverstanden? Als ich am 9. Mai 2018 mein «Bündner Tagblatt» aufschlug musste ich den Text «Karl Marx und die Familie» von Domprobst Christoph Casetti (geboren 1943) zweimal lesen. Er kann nicht nachvollziehen, dass sogar Vertreter der Kirche Karl Marx würdigen. Marx (1818 – 1883) sei ein Mitbegründer einer «Ideologie, der etwa 150 Millionen Menschen zum Opfer fielen». Es sei «ein ausdrückliches Ziel» von Marx gewesen, die ‘die Familie zu vernichten’, so Casetti mit Verweis auf den Fall eines todkranken Kleinkindes, das in einem Vatikanischen Kinderkrankenhaus hätte weiterbehandelt werden sollen, obwohl die Liverpooler Ärzte keine Hoffnung mehr sahen.

Im 19. Jahrhundert der industriellen Sklaverei, Kaiserlichen Herrlichkeiten und Unterdrückung der Völker in den Kolonien sah ein Advokatensohn aus Jüdischem Hause in Trier die Zeit gekommen, die festgefahrenen Denkstrukturen zu Gunsten des schuftenden Teils der Gesellschaft zu hinterfragen. Vor mehr als 2000 Jahren soll es einen Hebräer gegeben haben, der es wagte, neue Ein- und Aussichten zu veröffentlichen, um einem mit sturen Regeln zubetonierten Volk neue Horizonte der Befreiung aufzuzeigen. Weder er konnte ahnen, dass in seinem Namen ganze Völker abgeschlachtet wurden, mit einer Befehlszentrale in Rom, noch konnte Marx wissen, dass Extremisten mit seinem Denkmodell immenses Elend verursachten, nicht nur in Sibirien.

Dass ein Domprobst im 21. Jahrhundert das Denken eines Mannes aus dem 19. Jahrhundert dergestalt auf einen Punkt reduziert, um Werbung für den Vatikan bei einem Streit zwischen Ärzten, Eltern und Behörden zu machen, lässt den Verdacht zu, dass die Bildungsinstitute, an denen er studierte, einen heutigen Stresstest nicht überstünden. Oder übersieht der Verfasser in seiner Kritik einen relevanten Kontext?

Urs Heinz Aerni

 

Der passende Buchtipp: «Wo denken wir hin? Lebensthemen, Zivilisationsprozesse, demokratische Verantwortung» von Hans-Peter Waldhoff, Christine Morgenroth, Angela Moré und Michael Kopel, Psychosozial Verlag

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Veröffentlicht von

Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni wirkt als freischaffender Journalist BR ZPV, Kommunikationsberater, Kulturvermittler und Vogelbeobachter. Weitere Informationen: www.ursheinzaerni.com

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