Urs Heinz Aerni: Liebe Nacht, vielen Dank für Ihre Bereitschaft zu diesem Interview. Aber warum gelangen Sie erst jetzt an die Öffentlichkeit?

Nacht: Mein Frust trieb mich dazu.

Aerni: Ihr Frust?

Nacht: Ja, so wie es heute aussieht, schätzt niemand mehr meine Arbeit, obwohl ich den Job seit Jahrtausenden recht gut mache.

Aerni: Wieso denn? Was ist heute anders?

Nacht: Man nimmt mich nicht mehr ernst. Statt mich so zu nehmen wie ich bin, werde ich mit Lärm und Licht quasi neutralisiert.

Aerni: Wie meinen Sie das?

Nacht: Sehen Sie, nur schon vor 200 Jahren begab man sich mit bescheidenem Kerzenlicht zu Bett, sobald ich zu wirken begann. Ich wurde akzeptiert, ohne Wenn und Aber. Doch heute beginnen die Menschen erst zu leben, wenn es dunkel ist. Scheinwerfer gehen an, Fußballspiele werden neuerdings erst um 21 Uhr angepfiffen und Leuchtschriften geben mir – vor allem in den Städten – den Rest. Alles funkelt und glitzert und wo bleibt meine Arbeit? Ich hab schon Autofahrer gesehen, denen nicht mal mehr aufgefallen ist, ob sie mit oder ohne Licht fahren. Die sehen mich gar nicht mehr!

Aerni: Nun, hat der Mensch nicht schon immer das Nachtleben geliebt? Er sucht eben Geselligkeit. Ein Nachtclub ist ein Lokal in dem die Tische reservierter sind als die Gäste, soll Charlie Chaplin mal gesagt haben (lächelt).

Nacht: Witzig finde ich das nicht. Gut, in gewisser Hinsicht gebe ich Ihnen Recht. Schon immer wurden Nachtlokale und dubiose Veranstaltungen von Individuen besucht, doch das große Mehr schätzte die Ruhe und die Romantik. Es gab Zeiten, da war ich am Drücker. Kaum im Einsatz, stand alles still! Lesen Sie doch mal in der Bibel Johannes Kapitel 9, Vers 4: „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“ Ob Handel und Krieg – nichts lief! Und das nur wegen mir. Ist das nicht toll? Oder denken Sie an den Dichter Gryphius. Das ist nicht mal so lange her, im 17. Jahrhundert war es. Sie können sich nicht erinnern? Da zeigten die Menschen mir gegenüber noch Respekt! „Die Nacht ist keines Menschen Freund“, schrieb er im Verliebten Gespenst.

Aerni: Ist es das, was man will? Unbeliebt auf allen Seiten?

Nacht: Ehrfurcht ist nicht Antipathie! Ricarda Huch wusste noch, wie man über mich zu schreiben hat: „Uralter Worte kundig kommt die Nacht;/ Sie löst den Dingen Rüstung ab und Bande.“ Oder nehmen Sie beispielsweise das ägyptische Sprichwort: „Die Rede der Nacht ist mit Butter getränkt: Wenn der Tag darauf scheint, zerfließt sie.“ Wer kann dem heute noch nachfühlen? Nach Rambazamba und Party-Halligalli wird ausgeschlafen bis am Nachmittag. Von einer Romantik der Dämmerung ist keine Rede mehr.

Aerni: Aber was wollen Sie denn? Dass während Ihrer Arbeitszeit nichts mehr geht? Alles tot?

Nacht: Sagen Sie, wann waren Sie zum letzten Mal um Mitternacht im Wald? Hören Sie das Scharren der Dachse, die zirpenden Grillen oder das Heulen der Eulen? In meiner Arbeitszeit lebt es, und wie! Die Natur weiß noch, was sich gehört. Da ist noch Ordnung und Harmonie. Bei den Kaffernadlern ist zum Beispiel üblich, dass das Weibchen die ganze Nacht über auf den Eiern sitzt. Stellen Sie sich vor, was passierte, wenn auch die noch den Tag mit mir verwechselten.

Aerni: Liebe Nacht, wir Menschen sind aber keine Kaffernadler. Bei uns handelt es sich um eine Spezies, die mehr erreichen will, als Eier ausbrüten.

Nacht: Ich verlange nur mehr Beachtung für meine Sache. Es geht nicht an, dass meine Mühen, die von Flora und Fauna geschätzt wird, durch die Krönung der Schöpfung mit Gleichgültigkeit bestraft werden. Wenn’s mich nicht gäbe, wäre Amerika nicht entdeckt worden.

Aerni: Wie bitte?

Nacht: 12. Oktober 1492. „Tierra! Tierra!“, rief der Matrose auf der Pinta während der Nachtwache! Nicht am Vormittag und nicht am Nachmittag. Und Sie wollen mir weiß machen, dass zu meiner Zeit nichts läuft.

Aerni: Jetzt müssen Sie mir nur noch sagen, dass wir uns für all die nächtlichen Verkehrsunfälle, Flugzeugabstürze, Einbrüche und dergleichen bedanken sollen. Das geht doch zu weit.

Nacht: Einerseits bin ich Ihnen also zu langweilig und andererseits möchten Sie nur die Art von Action, bei der doch nichts passiert. Ihr Menschen seid für uns ein Rätsel.

Aerni: Uns?

Nacht: Ja. Schließlich treffe ich mich regelmäßig mit dem Tag. Wir haben uns über Euch Erdbewohner unterhalten.

Aerni: Worüber denn?

Nacht: Fusionen scheinen bei Euch beliebt zu sein. Nun, wir – also der Tag und ich – befinden uns in den Vorverhandlungen bezüglich einer Fusion.

Aerni: Fusion?

Nacht: Da Ihr Menschen mit Neigungen zum Diffusen behaftet seid, wäre es doch angebracht, die Erde in eine stete Dämmerung zu tauchen.

Aerni: Habt Ihr vielleicht schon einen Termin?

Nacht: Das nicht, aber Sie werden es auf jeden Fall merken.

Eine Antwort zu „Das erste Interview mit der Nacht”.

  1. Avatar von Simone Klein

    Die Fusion der Jahreszeiten hat offensichtlich bereits stattgefunden. T-Shirt-Wetter im November, Dauerregen im Frühsommer. Bin gespannt, wann Tag und Nacht über die Konditionen der Fusion einig werden und verschmelzen.

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