Als der Postbote zweimal…

Michael* wohnte in einem Dorf irgendwo in der Schweiz und liebte Denise*. Sie lebte im Nachbardorf. Er liebt sie so sehr, dass er ihr Briefe schrieb, einen am Vormittag, den sie am Nachmittag erhielt und einer am Nachmittag, den sie am nächsten Vormittag erhielt. Er verziehrte die Umschläge mit Zeichnungen und Zierschriften so sehr, dass es für sie nur so eine Wonne war. Das war so Anfangs der 80er Jahre, als der Postbote zweimal den Briefkasten heimsuchte. Zweimal im Tag konnte Denise den Briefkasten leeren und die Mutter rief aus der Küche ob was gekommen sei. Denise rief zurück: „Nichts!“ während sie den Brief von Michael ans Herz presste. Damals entstand viel Großes mit einem Brief, wie heute die Post wirbt.

Neulich gab ich einen Kartonumschlag am Schalter auf, der noch als Brief durchging. Liebevoll schrieb ich die Anschrift in leserlichen Lettern. Die Dame am Schalter sah mich ernst an und klebte eine Etikette über meine Schrift. Ich fragte nach, sie antwortete. Man müsse diese Etikette verwenden. Aha. Und man dürfe nur in Großbuchstaben schreiben. Oha. Und auch keine Zwischenzeile sei erlaubt. Ah ja. Umgehend käme das Ding zurück. Das wollen wir ja nicht. Klar. Eben, sonst könne der Computer den
Empfänger nicht lesen. Ja, und die Damen an den Schaltern erhielten Ermahungen von oben. Nun denn, da wollen wir als moderne Konsumenten nicht zurück stehen und den Maschinen geben was sie brauchen: Kalte klare Schrift auf genormten Etiketten damit für teures Geld unser Brief hoffentlich noch in der gleichen Woche ankommt. Oder noch besser, die Volkshochschule bietet einen neuen Weiterbildungskurs an. Titel: „Kompetenter Postkunde – Eine Herausforderung, die ich annehme“.

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Das erste Interview mit der Nacht

Urs Heinz Aerni: Liebe Nacht, vielen Dank für Ihre Bereitschaft zu diesem Interview. Aber warum gelangen Sie erst jetzt an die Öffentlichkeit?

Nacht: Mein Frust trieb mich dazu.

Aerni: Ihr Frust?

Nacht: Ja, so wie es heute aussieht, schätzt niemand mehr meine Arbeit, obwohl ich den Job seit Jahrtausenden recht gut mache.

Aerni: Wieso denn? Was ist heute anders?

Nacht: Man nimmt mich nicht mehr ernst. Statt mich so zu nehmen wie ich bin, werde ich mit Lärm und Licht quasi neutralisiert.

Aerni: Wie meinen Sie das?

Nacht: Sehen Sie, nur schon vor 200 Jahren begab man sich mit bescheidenem Kerzenlicht zu Bett, sobald ich zu wirken begann. Ich wurde akzeptiert, ohne Wenn und Aber. Doch heute beginnen die Menschen erst zu leben, wenn es dunkel ist. Scheinwerfer gehen an, Fußballspiele werden neuerdings erst um 21 Uhr angepfiffen und Leuchtschriften geben mir – vor allem in den Städten – den Rest. Alles funkelt und glitzert und wo bleibt meine Arbeit? Ich hab schon Autofahrer gesehen, denen nicht mal mehr aufgefallen ist, ob sie mit oder ohne Licht fahren. Die sehen mich gar nicht mehr!

Aerni: Nun, hat der Mensch nicht schon immer das Nachtleben geliebt? Er sucht eben Geselligkeit. Ein Nachtclub ist ein Lokal in dem die Tische reservierter sind als die Gäste, soll Charlie Chaplin mal gesagt haben (lächelt).

Nacht: Witzig finde ich das nicht. Gut, in gewisser Hinsicht gebe ich Ihnen Recht. Schon immer wurden Nachtlokale und dubiose Veranstaltungen von Individuen besucht, doch das große Mehr schätzte die Ruhe und die Romantik. Es gab Zeiten, da war ich am Drücker. Kaum im Einsatz, stand alles still! Lesen Sie doch mal in der Bibel Johannes Kapitel 9, Vers 4: „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“ Ob Handel und Krieg – nichts lief! Und das nur wegen mir. Ist das nicht toll? Oder denken Sie an den Dichter Gryphius. Das ist nicht mal so lange her, im 17. Jahrhundert war es. Sie können sich nicht erinnern? Da zeigten die Menschen mir gegenüber noch Respekt! „Die Nacht ist keines Menschen Freund“, schrieb er im Verliebten Gespenst.

Aerni: Ist es das, was man will? Unbeliebt auf allen Seiten?

Nacht: Ehrfurcht ist nicht Antipathie! Ricarda Huch wusste noch, wie man über mich zu schreiben hat: „Uralter Worte kundig kommt die Nacht;/ Sie löst den Dingen Rüstung ab und Bande.“ Oder nehmen Sie beispielsweise das ägyptische Sprichwort: „Die Rede der Nacht ist mit Butter getränkt: Wenn der Tag darauf scheint, zerfließt sie.“ Wer kann dem heute noch nachfühlen? Nach Rambazamba und Party-Halligalli wird ausgeschlafen bis am Nachmittag. Von einer Romantik der Dämmerung ist keine Rede mehr.

Aerni: Aber was wollen Sie denn? Dass während Ihrer Arbeitszeit nichts mehr geht? Alles tot?

Nacht: Sagen Sie, wann waren Sie zum letzten Mal um Mitternacht im Wald? Hören Sie das Scharren der Dachse, die zirpenden Grillen oder das Heulen der Eulen? In meiner Arbeitszeit lebt es, und wie! Die Natur weiß noch, was sich gehört. Da ist noch Ordnung und Harmonie. Bei den Kaffernadlern ist zum Beispiel üblich, dass das Weibchen die ganze Nacht über auf den Eiern sitzt. Stellen Sie sich vor, was passierte, wenn auch die noch den Tag mit mir verwechselten.

Aerni: Liebe Nacht, wir Menschen sind aber keine Kaffernadler. Bei uns handelt es sich um eine Spezies, die mehr erreichen will, als Eier ausbrüten.

Nacht: Ich verlange nur mehr Beachtung für meine Sache. Es geht nicht an, dass meine Mühen, die von Flora und Fauna geschätzt wird, durch die Krönung der Schöpfung mit Gleichgültigkeit bestraft werden. Wenn’s mich nicht gäbe, wäre Amerika nicht entdeckt worden.

Aerni: Wie bitte?

Nacht: 12. Oktober 1492. „Tierra! Tierra!“, rief der Matrose auf der Pinta während der Nachtwache! Nicht am Vormittag und nicht am Nachmittag. Und Sie wollen mir weiß machen, dass zu meiner Zeit nichts läuft.

Aerni: Jetzt müssen Sie mir nur noch sagen, dass wir uns für all die nächtlichen Verkehrsunfälle, Flugzeugabstürze, Einbrüche und dergleichen bedanken sollen. Das geht doch zu weit.

Nacht: Einerseits bin ich Ihnen also zu langweilig und andererseits möchten Sie nur die Art von Action, bei der doch nichts passiert. Ihr Menschen seid für uns ein Rätsel.

Aerni: Uns?

Nacht: Ja. Schließlich treffe ich mich regelmäßig mit dem Tag. Wir haben uns über Euch Erdbewohner unterhalten.

Aerni: Worüber denn?

Nacht: Fusionen scheinen bei Euch beliebt zu sein. Nun, wir – also der Tag und ich – befinden uns in den Vorverhandlungen bezüglich einer Fusion.

Aerni: Fusion?

Nacht: Da Ihr Menschen mit Neigungen zum Diffusen behaftet seid, wäre es doch angebracht, die Erde in eine stete Dämmerung zu tauchen.

Aerni: Habt Ihr vielleicht schon einen Termin?

Nacht: Das nicht, aber Sie werden es auf jeden Fall merken.

Er hat es wieder gemacht

Er hat es wieder geschafft, der Schweizer Journalist Tom Kummer; ein weiterer Skandal. Nachdem seine fiktiven Interviews mit Stars im Jahre 2000 aufgeflogen sind und sogar einen Dokumentationsfilm von Miklós Gimes auslöste, erhielt er wieder Schreibaufträge und trickste erneut mit Plagiaten.

Wie macht er das, dieser Tom Kummer? Damals narrte er Medien wie Tages-Anzeiger, Süddeutsche Zeitung oder die Zeit mit freierfundenen Interviews und getraut sich wieder als Journalist zu arbeiten. Damals nannte er seine Fantasietexte „Kunst“, andere und wohl vor allem die Leserschaft „Betrug“. Beim Besuch seiner – allerdings privaten – Facebook-Site kommt der Eindruck auf, dass ihm die Eigeninszenierung recht wichtig sein müsse. So bald die eigene Person und deren Darstellung in allen Farben und Posen im Vergleich mit anderen Menschen und Themen eine gewisse Dimension an Dominanz einnimmt, müsste ein kleines Warnlämpchen aufgehen.

Nichts gegen Journalistinnen und Journalisten, die sich auch gerne auf der Bühne sehen, der Verfasser gehört sicher auch zu ihnen, doch wenn die Selbstdarstellung dergestalt funkelt und glitzert, dürfte sich der Betroffene selber mal die Frage stellen, ob nicht vielleicht der Job als Schauspieler, Kabarettist oder eben Performance-Künstler angebrachter wäre.

Weitere Fragen stellen sich:

Ein heute lebender Plagiats-„Künstler“ der schreibenden Sorte, müsste eigentlich wissen, dass durch die digital gemachte Medienwelt alles transparent ist und zu oberflächlichen Recherchen verleitet.

Wie können Medien mit gutem Ruf wieder einen Journalisten anheuern, von dem man echt nicht wissen kann, ob er wieder rückfällig wird? Und die Rede ist nicht von einem Kollegen, der mal unter Druck für wenig Geld etwas da und dort abkupferte, sondern die Rede ist von einem Mann, der geplant, organisiert, clever und mit langandauernder Absicht Redaktionen und Leserschaft hinters Licht führte.

Faktor Mensch ist eben unberechenbar. Aber warum müssen es auch immer Interviews mit US-Filmstars, Supersportlern oder Laufsteg-Sternchen sein? Warum müssen es immer große Storys aus Übersee sein? Es gäbe so noch viel zu entdecken und so viele zu interviewen, das näher liegt aber ebenso viel Exotik in sich birgt.

Also liebe Medienhäuser wie Spiegel, Reportagen oder Zeit, ich kutschiere zwischen Sizilien, Tessin und Graubünden bis nach Linz oder Flensburg und recherchiere auch mal in Pforzheim, Hohenems oder Ascona, denn gute Geschichten gibt es auch hier. In Vorfreude auf Aufträge sei hier noch zu diesem Thema folgende Links als Service geliefert:

Bericht und Enthüllung der neuen Plagiate von Tom Kummer in der NZZ

Informationen über Tom Kummer auf Wikipedia

Trailer zum Dok-Film „Bad Boy Kummer“

Auftritt auf Facebook von Tom Kummer

Das öffentliche Entschuldigungsschreiben von Chefredakteur Daniel Puntas Bernet vom Magazin REPORTAGEN.

Die Migranten der Lüfte

Selbst den Zugvögeln setzt der Mensch Grenzen

Der Sprung ist vielleicht ihre grösste Reise. Elf Küken springen dreissig Meter tief aus dem Festungsloch eines Schlosses im Aargau. Vor zwei Tagen aus dem Ei gepellt und schon knallen sie auf dem Kiesboden auf, wie Tennisbälle. Der Bauer staunt, die Katze faucht und ein Strassenarbeiter dreht sich um. Die Küken richten sich piepsend auf und schauen zu, wie die Mutter der elf jungen Gänsesäger vor ihnen landet. Nun watscheln alle Richtung Bach durch Gärten, Wiesen und über eine Hauptstrasse. Sie überleben alle. Vor einem Jahr schaffte es fast keiner, dafür wurden die Krähen satt. Warum nur müssen diese Wasservögel da zuoberst im Schloss nisten? Das wissen nur allfällige Götter und ein paar Wissenschaftler.

 

Windmühlen gegen den Vogelzug?

Es fehlt hier an Platz, zu beschreiben, wie Zweig- und Rohrsänger tausende Kilometer hinter sich bringen, nur um hier Insekten zu fressen und die nächste Generation ins Nest zu setzen. Alles Wirtschaftsflüchtlinge, die ohne diese Reise nicht überleben könnten. Ein komplexes Atmungssystem, das eher einem Dudelsack gleicht, befähigt Vögel zu Höchstleistungen in dünner Luft, so dass auch mal ein Himalaya-Bergsteiger Gänse über sich hinweg ziehen sieht. Vögel, die Insekten fressen statt Beeren und Samen, müssen dahin, wo auch zwischen November und März das Richtige auf dem Speiseplan steht. Die Zivilisation scheint dieses Gewohnheitsrecht verhindern zu wollen: Strommasten fangen Störche ab, Windräder schlitzen Flussseeschwalben auf, Malteser schiessen sich Feldlerchen in den Kochtopf und Alpensegler geraten in die Düsen von Flugzeugen.

 

Warum in die Ferne schweifen…

Als ich diese Zeilen einem Biologen vorlas, meinte er, der Begriff «Reisen» passe nicht zu den Vögeln, da damit eher Bildungs- oder Erholungsreisen gemeint seien. Aber reisen wir nicht oft auch aus Widerwillen? Arbeitssuche, Verwandtenbesuche, Beerdigungen bis hin zur Flucht vor Unterdrückung, Hunger und Krieg. Das Reisen zur Erholung und Weiterbildung begann erst mit den Briten im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Vögel haben Gründe für ihre Reisen – und die ändern sich. Rotmilane stellen fest – um es in uns vertraute Worte zu fassen – dass der Schnee immer mehr ausbleibt und so die Sicht auf herumlaufende Mäuse offen lässt. Störche scheinen sich den Aufwand für ihre Reise an die Feder zu stecken, wenn die Sümpfe nicht mehr gefrieren und die Felder auch im tiefsten Winter alles bieten. Stare sind schon länger Pendler, die sich immer wieder relativ spontan für Norden und Süden entscheiden. Der Wandel des Klimas lässt also die Vögel nicht kalt, sie reagieren.

Was wird mit den Gästen aus dem Norden geschehen? Zu Tausenden bewohnen Reiherenten aus dem Norden Europas die hiesigen Seen im Winter und bieten nicht nur ein bezauberndes Bild, sondern halten die Wandermuschelbestände im Zaum. Die aus Norden kommenden Rotkehlchen ersetzen im winterlichen Wald den Gesang derjenigen, die gen Süden zogen. Im Frühling ist dann Schichtwechsel, dann, wenn die Nordischen wieder nach Hause ziehen und die Heimischen aus dem Süden kommen.

Aber auch der Ruf als Transitland für Zugvögel steht auf dem Spiel. Millionen von Bergfinken überziehen unser Land und immer wieder schmücken einige Kraniche unsere Moorgebiet bei einer Rast auf ihrer langen Reise. Vögel mit Namen wie Sichelstrandläufer oder Mornellregenpfeifer verzücken Ornithologen, wenn sie als Durchzugsgäste zu sehen sind.

 

Die Natur zieht sich in Reservate zurück

Aber der Mensch scheint alles daran zu setzen, dass Vögel nicht mehr ziehen können. Damit Vögel zwischen Skandinavien und Afrika oder Südostasien pausieren können, brauchen sie passende Orte – Seen, Feuchtgebiete, Moore, Flachgewässer, weite Brachlandschaften, Kies- und Sandbänke.

Doch die Kulturlandschaft verwandelt sich zunehmend in ausgelaugte Felder für die Massenproduktion der Nahrungsmittel- und Biogasindustrie. Die Zersiedelung der Restlandschaft um die Dörfer vernichtet grünes Land im Stundentakt. Die Gärten um die Häuschen und Wohnblocks sind ohne Naturwert: Monokultur in den Hecken, englischer Rasen, der den Boden verlehmen lässt statt Leben bringt, exotische Sträucher ohne Nutzen für Insekten und damit auch für Vögel. Der Artenvielfalt istdamit nicht gedient. Irgendwie scheint der Homo sapiens ein Instinkt zu haben, allen anderen auf dem noch blauen Planeten das Leben schwer zu machen. Gönnen wir doch den Zugvögeln die Reisefreiheit, die auch wir beanspruchen und lassen wir ihnen die Natur, die sie – und wir – so dringend brauchen!

 

 

Ein paar Fakten zum Vogelzug:

  • Noch immer ist die Navigationstechnik der Zugvögel ein weites Forschungsfeld. Wie stark die topografischen Verhältnisse oder die Sternekonstellation oder das Learning by Doing eine Rolle spielen, ist je nach Art unklar. Während die Jungtiere bei Störchen und Kranichen mit den Erwachsenen mitfliegen, muss der elternlose Kuckuck den Weg in den Süden finden.
  • Extreme Wetterverhältnisse können schon mal Vögel von der Flugroute abbringen, so kam auch schon mal aus Versehen ein Meisenwaldsänger aus Nordamerika in Westeuropa an.
  • Sogenannte Kurzzieher wie die Haubenlerche fliegen nach Südeuropa oder Nordafrika, Langzieher wie der Berglaubsänger zieht es bis südlich der Sahara, Südafrika oder gar Südostasien und Vertikalzieher bleiben zwar im Land aber überwintern eher in tieferen Lagen, so zum Beispiel der Mauerläufer.
  • Stare bringen gerne auch mal Geräusche mit aus dem Süden. So kann es vorkommen, dass die nachahmungsfreudigen Vögel einen arabisch anmutenden Geräusche-Teppich hinter die blühenden Obstbäume im Thurgauer Hinterland legen.

 

Lesetipps:

Rob Hume: Vögel – beobachten und bestimmen. Verlag Dorling, Kindersley

Daniel Lingenhöhl: Vogelwelt im Wandel – Trends und Perspektiven. Verlag Wiley-VCH

Delarze, Gonseth, Eggenberg, Vust: Lebensräume der Schweiz – Ökologie, Gefährdung, Kennarten. Verlag Ott

Dieser Beitrag wurde zuerst im Magazin ZEITPUNKT publiziert.