«Wir müssen gogen lugen, sonst scheissen uns die Indianer aben . . .», sagte damals mein kleiner Bruder und schlich weiter durch die Prärie unseres Nachbargartens im aargauischen Hinterland. Auf dem Pausenplatz imitierten wir Otto mit perfektem Bühnendeutsch, und alle Filmszenen mit Bud Spencer und Terence Hill spielten wir sequenzweise natürlich in Fernsehdeutsch nach. Deutsch war die Sprache der Medien. Auch der damals äusserst beliebte Radiosender SWF 3 liess uns die Gags von Starmoderatoren nachahmen. Eine Befürchtung, uns könnte der Dialekt deswegen abhandenkommen, war mitnichten vorhanden. Das war in den siebziger Jahren.
Geschehen vor kurzem an einer literarischen Veranstaltung in Zürich: Auf der Bühne saßen drei Schweizer Autoren und ein bekannter Moderator. Sie debattierten über das Schreiben und das Leben damit. Eine Dame im Publikum fiel durch heftiges Kopfschütteln und empörtes Flüstern auf. Sie versuchte sich zu melden, doch der Moderator reagierte nicht. Sie erhob sich und ging aus dem Saal. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um eine Frau aus Genf, die nur die Hochsprache verstand und Eintrittsgeld in der Annahme bezahlt hatte, dass ein öffentlicher Kulturanlass in dieser gehalten werde. Zwei Niederländer, die in Bivio Skitouren planten, konnten mit dem Wetterbericht auf SRF nichts anfangen; da sie weder Bern- noch Walliserdeutsch verstanden, mussten sie den Receptionisten am Empfang bemühen, um die entsprechenden Informationen zu erhalten.
Verfolgt man die gegenwärtige Diskussion über unseren Umgang mit der Hochsprache Deutsch, so wähnt man sich zum Teil in einem Umfeld, das langsam Züge einer geistigen Landesverteidigung annimmt. Davon abgesehen, dass das nördliche Nachbarland nun einmal unser größter Geschäftspartner und Kulturlieferant ist und der alpine Nachbar im Osten ebenso wichtig ist, gibt es noch genug Gründe, die Schriftsprache als die Geschäfts- und Landessprache zu akzeptieren, ohne dass wir unsere Eigenarten gefährdet sehen.
Vor Jahren wurden die sprachlichen Fertigkeiten der Schweizer Rekruten getestet, mit verheerendem Ergebnis. Nur eine Minderheit konnte einen Zeitungsartikel einigermassen sinngemäss zusammenfassen. Das Sprachbewusstsein wurde dann auch im Kontext mit der Lebenszufriedenheit und der Karrieremöglichkeit untersucht, es ergaben sich klare Zusammenhänge. Problemdefinierung, Zieldeklarierung und Standortbestimmung sind halt nur über Sprache möglich. Fehlt die dazu nötige Fertigkeit, wird es für den Betroffenen schwierig. Ob es nun Schweizer sind, die in wortkargen Verhältnissen aufwachsen, oder Migranten, die sich hier zurechtfinden wollen; die Dominanz des Dialekts in Schulen, Radio und Fernsehen macht ihnen das Leben nicht einfach.
Wortgewandtheit ist gefragt bei Bewerbungsschreiben, Vorstellungsgesprächen oder Krisensitzungen. Sie muss gebildet werden, und an ihr muss gefeilt werden, ob gesprochen oder geschrieben. Obschon die Mehrsprachigkeit der Schweizer gelobt wird, fühlen sich viele Zeitgenossen in der offiziellen Sprache nur bedingt zu Hause und zeigen Hemmungen in der Anwendung derselben. Zwei Beispiele: Im Schnellzug zwischen Zürich und Olten erklärte der Schaffner Fahrradtouristen aus Deutschland, dass die Velos in einen anderen Waggon gehörten. Die Sportsfreunde fragten zurück mit: «Bitte?» – als hätte der Schaffner, der immer wieder vom Schrift- ins Schweizerdeutsch kippte, einen Datenstau in der Sprachschnittstelle. Oder ein Beispiel von der Leipziger Buchmesse: Die junge Assistentin eines Messestands für Schweizer Verlage wurde von Besuchern aus Österreich mit Fragen zum hiesigen Bücherschaffen angesprochen. Die Schweizerin zeigte sich dermaßen um Worte ringend, dass sie das Gespräch mit einem Stapel Prospekte und mit dem Wunsch für einen schönen Tag abkürzte.
Die sprachliche Kompetenz ist nicht allein an der Beherrschung von Fremdsprachen festzumachen, sondern auch an der eloquenten Handhabung des Werkzeuges, mit dem wir uns erklären, mit dem wir fragen, uns austauschen und bilden. Wird dies durch einen Mix aus Bruchstücken aus anderen Sprachelementen – ob Mundart oder Fremdsprachen – fragmentiert, besteht die Gefahr einer Verunsicherung bezüglich sozialer Sicherheit, verunmöglicht es gar die eigene Positionierung in der Gesellschaft. Ohne die Dialektvielfalt zu schwächen, bringt die konzentrierte Kultivierung des Hochdeutschen nur Vorteile für die Rede- und Lesekompetenz. Und Hand aufs Herz, in einem Land, das ohne Bodenschätze, aber dafür mit Handel, Kultur und Tourismus existiert, kann eine aktiv gebrauchte Hochsprache nur nützen. Das Bühnendeutsch überlassen wir den Schauspielern.
Ich bin mit meiner Meinung ganz bei Ihnen lieber Urs Aerni. Wenn ich auch Dialekt und Hochsprache gern mischle ab und zu beim Schreiben oder Reden. Dann mache ich aber nur Gespass.
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Ziemlich peinlich, wie manche Schweizer ihre Unfähigkeit, die Hochsprache zu praktizieren, mit der Tradition der Mundart(en) rechtfertigen. Sie sollten sich ein Beispiel an Norwegen nehmen. Mundart Schriftsprache müssen sich nicht ausschließen.
Mit Blick auf die Einwohnerzahl ist Norwegen mit der Schweiz vergleichbar. Dort ist es gelungen, zwei Standardsprachen (Bokmål und Nynorsk) zu schaffen, die regionalen Befindlichkeiten Rechnung tragen. In der Schule gelehrt werden beide. So finden sich Ost- und Westnorweger unabhängig von ihrer Mundart in den Schriftsprachen wieder.
Allerdings verfügt Norwegen über einen deutlich höheren Anteil von Menschen mit Hochschulzugangsberechtigung und bildet gemeinsam mit Dänemark und Schweden eine Art „literarisches Biotop“. In Belletristik und Jugendliteratur sind diese Länder Vorreiter und internationale Preisträger und das Bedürfnis, zu schreiben, ist generell sehr hoch. Dialekte sind in allen drei Ländern beliebt und ziehen in Form der direkten Rede auch in die Literatur ein. Zu einer Ablehnung von Hochsprache würde es niemals kommen und dass eine Verlagsmitarbeiterin auf einer Buchmesse nicht mit Kunden kommunizieren kann, schon gar nicht. Es ist bedauerlich, wie sehr die deutsche Hochsprache in der Schweiz auf eine zweckgebundene Gebrauchssprache reduziert wird, und häufig als hart und gefühllos abstempeln lassen muss. Was kann eine Sprache dafür, dass manche sie nicht sprechen können?
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